L’attachement
Carine Tardieu, Belgien, Frankreich, 2025o
Nach dem Tod seiner Frau muss sich Alex um ein neugeborenes Baby und einen kleinen Jungen kümmern. Seine Nachbarin Sandra, eine unabhängige Frau um die 50, nähert sich dem Witwer und seinen Kindern widerwillig an. Alex lernt, die Verantwortung der Elternschaft zu übernehmen, während Sandra versucht, ihrer Rolle als alleinstehende Nachbarin zu widerstehen, die gnadenlos ausgebohrt werden kann. Im Laufe der Monate suchen die Mitglieder dieser Konstellation nach einem Gleichgewicht in ihrer Beziehung.
Als sogenannt «kleiner Film» mit grossen Schauspielern (Valeria Bruni Tedeschi, Pio Marmaï, Vimala Pons, Raphaël Quenard) hinterfragt L’attachement Geschlechter-Rollen mit dem diskreten Charme des dargestellten Milieu, der Bourgeoisie von Rennes. Das mag nach einem bescheidenen Anspruch klingen, doch setzten ihn Carine Tardieu und ihre Besetzung mit Feinheit und Finessen um. Es geht um einen Neuanfang: Nach dem Tod seiner Partnerin beim Gebären muss sich Alex um das Neugeborene und Elio kümmern, das erste Kind seiner verstorbenen Frau. Der trauernde Vater und Stiefvater findet unerwartete Unterstützung bei seiner Nachbarin Sandra. In dieser bewegten Zeit müssen sich beide mit ihren neuen Rolle zurechtfinden: Alex lernt, seine väterliche Verantwortung zu übernehmen, während Sandra darum kämpft, nicht in die Rolle der alleinstehenden Nachbarin zu geraten, die für alle da ist. Bald tauchen neue Figuren in dieser kleinen Welt auf: Elios leiblicher Vater kehrt ins Leben seines Sohnes zurück, während Alex mit einer Kinderärztin das Gefühl der Liebe wiederentdeckt. Sanft subversiv vermeidet das Drehbuch ein konventionelles Happy End mit der Wiederherstellung der Kernfamilie. Bis zur letzten Minute geht es um die prekäre Suche nach einem Gleichgewicht, das sich durch die Entwicklung der Figuren immer wieder neu definiert. Wie kann man heute Vater sein? Wie kann man sich von den Erwartungen befreien, die an Frauen gestellt werden? Der sensible und intelligente Film lässt dem Publikum Raum, um seine eigenen Antworten zu finden.
Émilien Gür